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Frankfurter Allgemeine Zeitung

Ungarische Gereiztheit

Das politische Klima vor den Wahlen ist vergiftet / Von Matthias Rüb

BUDAPEST, 2. April. Hat in Ungarn die Zukunft begonnen, oder verdient das Land Besseres? Um diese Frage geht es nach den Wahlslogans der beiden größten Parteien bei den Parlamentswahlen am kommenden Sonntag. Es stehen sich gegenüber die beiden "Blockparteien" auf der Rechten und der Linken: die Bürgerliche Partei (Fidesz-MPP) mit dem zupackenden und elanvollen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und die Sozialisten (MSZP) mit ihrem Spitzenkandidaten Péter Medgyessy, einer Art Grandseigneur der Reformpolitik aus den Zeiten vor der Epochenwende von 1989.

Das Dilemma der Sozialisten, die nach vier Jahren Opposition wieder an die Regierung wollen, ist sozusagen schon eines der Physiognomie: Medgyessy wird bald 60, ist ein verbindlicher Mann mit schütterem und ergrautem Haar, der sich als maßgeblicher finanzpolitischer Stratege der reformkommunistischen Regierungen zwischen 1987 und 1990 und dann wieder als Finanzminister unter dem sozialistischen Ministerpräsidenten Gyula Horn von 1996 bis 1998 unzweifelhaft Verdienste um die Entwicklung der Marktwirtschaft in Ungarn erworben hat. Orbán dagegen ist ein junger Mann von 38 Jahren mit dichtem schwarzem Schopf, den er seit seiner politstrategischen Mutation vom überzeugten Liberalen zum strammen Nationalkonservativen freilich kein bißchen mehr struppig, sondern zu einem akkuraten Scheitel zugerichtet trägt.

Orbán ist trotz seiner jugendlichen Dynamik ein politisches Urgestein in Ungarn. Im Juni 1989, bei der feierlichen Wiederbestattung von Imre Nagy, dem Regierungschef während des Volksaufstandes von 1956, forderte Orbán in einer fulminanten Rede auf dem Budapester Heldenplatz den vollständigen Abzug der Roten Armee aus Ungarn. Damit erwarb sich Orbán den Ruf eines unerschrockenen Rebellen gegen das spätkommunistische Establishment, den er auch heute noch gerne vor sich herträgt. Und ausgerechnet er soll von einem Überlebenden ebendieses Establishments abgelöst werden, der es sich als Bankmanager in der Marktwirtschaft zudem recht bequem gemacht hat?

Die Geschichte der ungarischen Demokratie seit den ersten freien Wahlen von 1990 ist im Vergleich zu den übrigen Reformstaaten der Region einzigartig: Sie ist ein Beispiel für Stabilität und Wetterwendigkeit gleichermaßen. Noch jede Regierung hat alle Krisen gemeistert und die volle Legislaturperiode überstanden. Aber die Wiederwahl hat keine geschafft. Zuerst kamen die Konservativen unter Jószef Antall, 1994 dann die Sozialisten mit Gyula Horn und 1998 schließlich die von Liberalen zu Konservativen gewandelte Partei Orbáns. Nach dem Gesetz der Serie müßten nun wieder die Sozialisten an die Reihe kommen. Wenn es diesmal - wofür manches spricht - aber nicht zum Wechsel kommt, dann liegt es daran, daß die Sozialisten den Generationswechsel nicht geschafft haben. In der MSZP ist mit Kandidat Medgyessy, Parteichef László Kovács und dem unermüdlichen Strippenzieher Gyula Horn noch immer die alte Garde am Ruder.

Das wäre eigentlich eine Steilvorlage für Fidesz-MPP, die der passionierte Fußballspieler Orbán locker zum Tor der Wiederwahl für weitere vier Jahre verwandeln müßte. Und dennoch ist der Ausgang der Wahlen am Sonntag und beim Stichentscheid in den Wahlkreisen am 21. April offen. Stark gemacht wurden die eigentlich schwachen Sozialisten von niemand anderem als der oft arrogant und kraftmeierisch auftretenden Regierung. Mit aller Macht haben die Strategen von Fidesz-MPP die politische Spaltung des Landes betrieben - so als gehe es 13 Jahre nach der Epochenwende noch einmal um eine Richtungswahl zwischen den nationalen Kräften, die Freiheit und Wohlstand garantieren, und den Vaterlandsverrätern (der Vorwurf an die Opposition ist wörtlich so gefallen), die um den Judaslohn der Bestechlichkeit den Wohlstand des Volkes an irgendwelche finsteren und natürlich ausländischen Kräfte zu verhökern bereit sind. Dabei bewies auch Fidesz-MPP bei der Vergabe von Aufträgen etwa zum Autobahnbau ohne öffentliche Ausschreibungen an naturgemäß einheimische und "befreundete" Firmen oder bei der Finanzierung von Imagekampagnen für Land und Regierung, daß die Konservativen ebenso virtuos öffentliche Mittel zu nicht ganz öffentlichen Zwecken umleiten können wie die darin viel länger geübten Sozialisten.

Die extreme und zudem künstliche Zuspitzung, die das ganze politische und öffentliche Leben Ungarns verseucht hat und zu einer schier unerträglichen Spannung und Gereiztheit im Land geführt hat, ist nur um den Preis einer gewissen Verrohung zu haben. Das vorläufig letzte Kapitel dieser Kampagne war die kaum verklausulierte Aufforderung des fürs Grobe zuständigen Wahlkampfmanagers von Fidesz-MPP, László Kövér, einige Politiker der Opposition täten ihrer Nation den größten Dienst, wenn sie sich an einem stabilen Balken aufhängen würden. Die Empörung der sozialistischen und linksliberalen Opposition über diese jüngste Geschmacklosigkeit war ordnungsgemäß gewaltig.

Dabei hätte die Regierung Grund, in aller Ruhe etwa auf die wirtschaftlichen Erfolge zu verweisen. Die Wachstumsrate liegt seit Regierungsantritt weit über dem Duchschnitt in den Staaten der EU - im vergangenen Jahr waren es gut vier Prozent. Die sinkende Arbeitslosenrate liegt bei jetzt sechs Prozent - auch ein Wert, von dem manche Regierungen in der EU träumen können. Die Reallöhne steigen deutlich, der Binnenkonsum zieht an, die Inflation wurde unter die Schwelle von zehn Prozent gesenkt. Die Opposition sagt freilich, daß diese Früchte nur auf dem Boden der schmerzhaften Reformen der sozialistisch-liberalen Vorgängerregierung wachsen konnten. Und sie warnt vor den möglicherweise gefährlichen Folgen der staatsdirigistischen Neigungen der Regierung, die zudem kurz vor den Wahlen die Haushaltsdisziplin deutlich lockerte. Daß die wirklich großen Reformprojekte wie der Umbau des maroden und hochdefizitären Gesundheitswesens oder der Altersversorgung noch nicht Angriff genommen oder abgeschlossen wurden, kann man jeder Regierung seit 1990 vorwerfen.

Mit ihrer Taktik der Flurbereinigung hat Fidesz-MPP die politische Mitte ausgetrocknet. Kleinere konservative Parteien sind faktisch von Fidesz-MPP aufgesogen worden, weil nur mit ihr Zugang zur Macht möglich ist. Die von Korruptionsskandalen geschüttelten Kleinlandwirte unter dem ehemaligen Landwirtschaftsminister József Torgyán, seit 1998 Koalitionspartner von Orbán, dürften nicht mehr den Sprung über die Fünfprozenthürde schaffen und tendenziell von der politischen Landkarte verschwinden. Auf der anderen Seite des Grabens bietet sich für die Sozialisten der linksliberale Bund Freier Demokraten (SzDSz) an, mit dem Horn schon von 1994 bis 1998 koaliert hatte. Zuletzt war der verbrauchte SzDSz wieder im Aufwind und hofft jetzt auf zehn Prozent der Stimmen.

Deshalb hängt viel, ja vielleicht alles vom Abschneiden der rechtsextremen und antisemitischen Gerechtigkeits- und Lebenspartei (MIÉP) unter dem ehemaligen Dichter István Csurka ab, der nach den Terroranschlägen vom 11. September mit unverhohlener Genugtuung darüber sinnierte, Vertreter von "unterdrückten Völkern" hätten "die Hochburg der Globalisierung in Schutt und Asche gelegt". Um eine klare Absage jeder Zusammenarbeit mit MIÉP haben sich Fidesz-MPP und Orbán bisher gedrückt. Offiziell heißt es, man rechne mit einer absoluten Mehrheit der Sitze.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.04.2002, Nr. 77 / Seite 6

 


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DER STANDARD (Wien)

Mittwoch, 3. April 2002, Seite 4

"Offen fremdenfeindlich und antisemitisch"

Das Abschneiden der rechtsradikalen "Ungarischen Wahrheits- und Lebenspartei" (MIÉP) ist für den Publizisten Paul Lendvai die Schlüsselfrage bei den Wahlen im Nachbarland. Die MIÉP stehe für Fremdenhass und offenen Antisemitismus in Ungarn.

Gerhard Plott

Wien - Paul Lendvai ist entsetzt: "Verglichen mit der MIÉP und ihrem publizistischen Umfeld ist die FPÖ unter Jörg Haider eine linkssektiererische Partei. So einen brutalen, offen antisemitischen und fremdenfeindlichen Ton wie aus dem Umfeld der MIÉP kenne ich aus keinem anderen europäischen Land. Das ist ein unglaublicher Stürmer-Stil."

Der Publizist, der dieser Tage die tschechische Ausgabe seines Buch "Die Ungarn" in Prag präsentiert, will "natürlich klar zwischen Wählern und Wortführern der MIÉP trennen": "Viele Leute wählen die MIÉP, weil sie sich als Verlierer der Wende betrachten."

Auch sei die MIÉP unter ihrem Parteichef István Csurka noch keine Gefahr für die ungarische Demokratie. Dennoch seien Sätze wie "Vom Ufer des Jordans kommen sie wieder ans Ufer der Donau, um noch einmal den Ungarn einen Fußtritt zu geben" vom stellvertretenden Vorsitzenden der MIÉP, Lorant Hegedüs, einfach unerträglich. Lendvai hofft, dass die Wahlbeteiligung hoch sein werde: "Dann bekommen auch kleinere Parteien so viele Stimmen, dass die MIÉP unter fünf Prozent bleibt."

Im Wahlkampf würden sich nun eben "die östlichen Einschläge in der Verwestlichung Ungarns" zeigen, meint der ungarischstämmige Journalist: "Der Wahlkampf war scharf, voll mit persönlichen Untergriffen, aber im Grunde nicht schlimmer als in Frankreich, oder Italien. Er wurde dominiert durch die Dynamik der Regierungspartei Fidesz."

Bei der vierten demokratischen Wahl gehe es erstmals darum, ob eine Regierung bestätigt werde, meint Lendvai: "Die letzten Wahlen hat ja Gyula Horn mit unglaublichem Geschick für die Sozialisten verloren."

Voraussagen seien allerdings wegen des komplizierten ungarischen Wahlsystems gefährlich, betont der Publizist: "So wie die Dinge stehen, glaube ich dennoch, dass die Regierungskoalition knapp gewinnen wird, aber alles ist offen."

Interessant sei vor allem die Person des Ministerpräsidenten: "Viktor Orbán kann man mit mehreren Politikern in Österreich vergleichen, auch mit Jörg Haider. Orbán ist trotz seiner Jugend der begabteste ungarische Politiker, mit einer unglaublich starken Machtposition in seiner Partei. Nicht die Fidesz hat einen Ministerpräsidenten Orbán, sondern Orbán hat eine Fidesz, alles hängt von ihm ab."

Orbáns Gegenspieler, der Sozialist Péter Medgyessy, sei zwar ein "eleganter ungarischer Herr, ein Zwischending zwischen Androsch und Vranitzky", aber er habe keine Bodenhaftung. Trotzdem habe Medgyessy bessere Sympathiewerte als Orbán

 


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DER STANDARD (Wien)

Mittwoch, 3. April 2002, Seite 4

Das böse Spiel mit der "zerstückelten Heimat"

Die Ungarische Wahrheits- und Gerechtigkeitspartei (MIÉP) war in den vier Jahren der Regierung Orbán weder Oppositions- noch Regierungspartei. Sie war einfach nur rechtsradikal.

Gregor Mayer

Budapest - Bei vielen Abstimmungen im Parlament stimmte die MIÉP mit der Regierung. MIÉP-Leute erhielten leitende Positionen im Staatsfunk, aber auch den Posten des Verwaltungsamts- chefs von Budapest.

Gegründet wurde die MIÉP 1993 vom Schriftststeller István Csurka, als Abspaltung des damals regierenden konservativen Ungarischen Demokratischen Forums (MDF). Csurka war vor der Wende ein beliebter Theaterautor, ein Bonvivant und begeisterter Besucher der Pferderennbahn. Seine Theaterstücke waren nie "völkisch", sondern verbanden städtischen Boulevard mit Gesellschaftskritik.

Dennoch positionierte sich Csurka 1992, damals noch als MDF-Vizevorsitzender, mit einem Pamphlet, in dem er kodiert antisemitisch von einer "Achse Paris - New York - Tel Aviv" schrieb und erstmals den Begriff "Lebensraum" affirmativ in einer Nazi-Konnotation verwendete.

Die MIÉP blieb bei den Wahlen 1994 mit 1,6 Prozent weit unter der für den Einzug ins Parlament erforderlichen Fünf-Prozent-Schwelle. 1998 überschritt sie diese gerade. Damit zog die von der MIÉP gepflegte, kaum verhüllte Nazi-Geistigkeit in die ungarische Volksvertretung ein.

In einem Hetzartikel gegen die Auswahl ungarischer Beiträge für die Frankfurter Buchmesse 1999 ließ Csurka die Namen von Schriftsstellern jüdischer Herkunft kursiv setzen - eine Methode, derer sich schon die deklarierten Antisemiten und Büchereinstampfer des Horthy-Regimes bedienten. Der reformierte Pfarrer und MIÉP-Abgeordnete Lorant Hegedüs rief zur "Ausgrenzung" der "galizischen Dahergelaufenen" - ein Pejorativ für die Juden - auf, die als "verkörperte Unmenschen (...) die Heimat zerfressen" würden. Gegen ihn läuft deshalb ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren wegen Verdachts auf Volksverhetzung.

Dies hinderte ihn nicht daran, im Wahlkampf "die Rückholung der zerstückelten Heimat" zu fordern. Auch der MIÉP-Slogan "Dableiben. Schaffen. Zurückholen" spielt auf die angestrebte Revision des Friedensvertrags von Trianon nach dem Ersten Weltkrieg an, in dem zwei Drittel der damaligen ungarischen Territorien den Nachbarländern zugesprochen wurden.

Orbáns Fidesz setzte schon im Vorfeld des Wahlkampfes alles daran, der MIÉP möglichst viele Wähler abspenstig zu machen. Ohne die Rechtsextremisten zu kritisieren oder sich gar von ihnen zu distanzieren, ging man dazu über, ihre Rhetorik in etwas verwässerter Form zu übernehmen. Orbán eröffnete keine Front gegen die Pariser-Vororte-Verträge, sondern gegen die Benes-Dekrete, von denen etwa 80.000 ethnische Ungarn betroffen waren und die auch von Schüssel, Haider und Stoiber gerne thematisiert werden.

Vorsichtig tastete sich Orbán an den Csurkaschen "Lebensraum"-Begriff heran, sprach einmal vom "wirtschaftlichen Lebensraum der Ungarn", dann wieder - scheinbar abstrakt - vom "Lebensraum des Guten und des Bösen".

Ein im vergangenen Juni verabschiedetes "Statusgesetz" verhilft den rund drei Millionen ungarischen Volksgruppenangehörigen in den Nachbarländern zu kleinen Begünstigungen und stattet sie mit einem symbolträchtigen "Ungarn-Ausweis" aus, auf dessen Einband die Stephanskrone prangt. Pompöse Millenniumsfeierlichkeiten, ein bizarrer Kult um die Krone und viel Fahnenschwingen leiteten schon zwei Jahre vor den Wahlen eine Homogenisierung des rechten Wählerpotenzials auf ethnisch-nationalistischer Grundlage ein.